Archiv Volksentscheid
Kritik an den Argumenten von Pro Reli
Beispielanalysen aus der Praxis der Desinformation
Eine Auseinandersetzung mit Texten von Pro Reli / von Gerd Eggers[1]
In seinen Texten führt der Verein "Pro Reli" verschiedene Argumente an, welche die Wahlberechtigten zu möglichst zahlreichen Unterschriften für sein Anliegen bewegen sollen. In den Argumentationstexten des Vereins wird immer wieder auf eine angeblich größere Freiheit eines Wahlpflichtbereichs und auf Neutralitätsprobleme eines Pflichtfaches Ethik verwiesen, um damit das eigene Modell als das bessere darzustellen. Deshalb sollen im Folgenden und ähnlich der Analyse von Lina Fröhlich beispielhaft Aussagen zu diesen beiden Argumenten sowie zur Behauptung einer angeblichen Grundrechtsverweigerung in Berlin betrachtet werden. Die kursiv gedruckten Zitate stammen aus folgenden Texten: "6 Gründe für Wahlfreiheit" (befindet sich auf den Unterschriftenlisten des Volksbegehrens), "7 Argumente Pro Reli" und "Ausgangslage" von der Homepage des Vereins (www.pro-reli.de).
Pro Reli-Behauptung: Gemeinsamer Ethikunterricht ist ein "Zwangsfach"
"Jeder soll frei wählen können. Zwischen Ethik, evangelischer, islamischer und jüdischer Religion oder
Weltanschauungsunterricht. Ein Zwangsfach Ethik für alle bedeutet Bevormundung" und "zeigt einen Mangel an Toleranz gegenüber anderen." Und: "Nur beim Wahlpflichtbereich Ethik/Religion hat jeder Schüler und
jede Schülerin eine wirkliche Wahlfreiheit."
Dazu ist festzustellen: Wer das Fach Ethik, in dem für alle Schülerinnen und Schüler eine Orientierung auf Menschenrechte und Grundgesetz
stattfindet, als "Zwangsfach" und "Bevormundung" diffamiert, zeigt damit eine mangelnde Orientierung an den
Grundwerten unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft und eine Nähe zu fundamentalistischen Haltungen. Ein Wahlpflichtbereich Ethik/Religion bietet gerade keine wirkliche Wahlfreiheit, sondern
schränkt sie ein, in dem Schülerinnen zwischen einem allgemeinbildenden und einem Unterricht wählen müssen, der an ein religiöses, z.B. an ein christliches oder islamisches Bekenntnis gebunden ist.
Derzeit können alle neben dem Ethikunterricht zusätzlich an einem sie interessierenden Religions- oder Weltanschauungsunterricht teilnehmen.
Im Einzelnen:
1. Der von Pro Reli geforderte Wahlpflichtbereich gewährleistet nur bei oberflächlicher Betrachtung wirkliche Freiheit. Denn – wie auch das Bundesverfassungsgericht bestätigte, verletzt ein Pflichtfach Ethik die Freiheit der Schülerinnen und Schüler in keiner Weise. Wäre dem so, hätte das Gericht die entsprechenden Bestimmungen des Berliner Schulgesetzes für verfassungswidrig erklärt, denn Freiheitsrechte stehen bei den Grundrechten an erster Stelle.
2. Im Übrigen vergisst der Verein "Pro Reli" zu erwähnen, dass gerade der Religions- und Weltanschauungsunterricht in Berlin durch seinen Charakter als uneingeschränkt freiwilliges Fach (Anmeldefach ohne staatliche Benotung) in besonderer Weise freiheitsfreundlich ist. Auf Schülerinnen und Schüler, die ein bekenntnisgebundenes Unterrichtsangebot für sich nicht wünschen, wird keinerlei Druck in der Form ausgeübt, dass sie einen Ethikunterricht als Ersatzfach (wie in vielen alten Bundesländern) oder als Wahlpflichtfach (wie z.B. in Sachsen oder Thüringen) besuchen müssen.
3. Der Berliner Ethikunterricht ist ein vollwertiges Fach der Allgemeinbildung. Durch die Vermittlung von wichtigen Kompetenzen zur Lebensorientierung und Lebensgestaltung fördert er die Entfaltung individueller Freiheit bei allen Schülerinnen und Schülern, unabhängig von ihrer religiösen oder weltanschaulichen Bindung. Den gemeinsamen Ethikunterricht als "Zwangsfach" zu bezeichnen, ist diffamierend und zeigt zugleich eine profunde Unkenntnis davon, was zu einer modernen Schulbildung gehört.
4. "Pro Reli" fordert mehr Freiheit ein, zielt aber faktisch auf deren Einschränkung. Denn wenn es nach "Pro Reli" ginge, dürften Schülerinnen und Schüler, die an einem Religions- oder Weltanschauungsunterricht teilnehmen wollen, künftig nicht mehr das allgemeinbildende Fach Ethik besuchen – und umgekehrt.
5. Ein schlechter Stil ist es auch, dem Berliner Ethikfach "Mangel an Toleranz gegenüber anderen" zu unterstellen, weil gerade dieses Fach in seinen Zielsetzungen und in seiner Praxis auf die Förderung von Toleranz gerichtet ist.
6. Und schließlich: Wie wenig Sinn ein Wahlpflichtbereich Ethik/Religion wirklich macht, wird deutlich, wenn man parallele Überlegungen z.B. zu Fächern der Politischen Bildung oder zum Biologieunterricht anstellt. Wie wäre es denn, wenn Schülerinnen und Schüler künftig in einem Wahlpflichtbereich zwischen einen allgemeinbildenden Politikunterricht und Unterrichtsfächern wählen müssten, die von einzelnen Parteien oder politischen Bewegungen inhaltlich verantwortet werden. Oder zwischen einem herkömmlichen Biologieunterricht und einem religiös-fundamentierten Fach, in dem die biblische Schöpfungslehre neben oder vor die Evolutionstheorie gestellt wird?
Pro Ethik-Behauptung: Ethik als Pflichtfach steht im "Dilemma weltanschaulicher Neutralität"
Pro Reli behauptet:
"Ethik als alleiniges Pflichtfach steht in einem Dilemma. Es soll Werte vermitteln, muss aber als alleiniges, nicht abwählbares Fach weltanschaulich neutral
sein. Es gibt aber keine Wertevermittlung ohne ein Bezugssystem. Und ein Bezugssystem ist immer an weltanschauliche Grundüberzeugungen gekoppelt – unabhängig davon, ob diese nun säkular-humanistisch,
oder religiös begründet sind. Die Fächergruppe Ethik/Religion befreit aus diesem Dilemma. Hier gibt es kein Unterrichtsmonopol mehr für Ethik und damit auch nicht die unerfüllbare Verpflichtung zur
weltanschaulichen Neutralität." Und an anderer Stelle: "Wertevermittlung im Fach Ethik ist weltanschaulich nie neutral. Wird Ethik – wie in Berlin – zum
alleinigen Pflichtfach gemacht, mischt sich der Staat unnötig in Weltanschauungsfragen ein. Das widerspricht der staatlichen Neutralitätspflicht."
Richtig dagegen ist: Die Wertevermittlung und Bildung im Fach Ethik ist – wie bei allen anderen
Schulfächern – an das Grundgesetz und die Menschenrechte gebunden. Das ist das in unserer Gesellschaft allgemein anerkannte Bezugssystem und es ist in keiner Weise an eine bestimmte Religion oder
Weltanschauung gebunden. Es steht über den Bezugssystemen einzelner gesellschaftlicher Gruppen und sichert deren Freiheit, sich zu einzelnen Religionen oder Weltanschauungen zu bekennen und diese zu
praktizieren, sei es z.B. das Christentum, der Islam und der Humanismus.
Im Einzelnen:
1. Bezugssystem für das Fach Ethik sind das Grundgesetz, die Menschenrechtskonvention und die im Schulgesetz festgelegten Bildungs- und Erziehungsziele. Danach ist das Fach Ethik, wie alle anderen Schulfächer, religiös und weltanschaulich neutral zu unterrichten. Dies bedeutet, dass der Unterricht von jeglichen spezifischen religiösen oder weltanschaulichen Tendenzen freizuhalten ist. Religionen, Konfessionen und Weltanschauungen sind ausgewogen und auf philosophisch-religionswissenschaftlicher Basis darzustellen. Diese Neutralitätspflicht gilt auch für die im Berliner Schulgesetz vorgesehene Kooperation des Ethikunterrichts mit Bekenntnisgemeinschaften. Hier darf keine Bekenntnisgemeinschaft bevorzugt oder benachteiligt werden.
2. Öffentliche Schulen sind insgesamt der Werteerziehung verpflichtet. Es braucht dafür kein religiöses oder weltanschauliches Bezugssystem. Die öffentlichen Schulen dürfen sich auch nicht – im Unterschied zu Konfessionsschulen – auf ein solches beziehen. Ihr Bezugssystem sind die Menschenrechte, die Grundrechte unserer Verfassung, die schulgesetzlich festgelegten Bildungs- und Erziehungsziele und die Rahmenlehrpläne der einzelnen Fächer.
3. Ein "säkular-humanistisches" Wahlpflichtfach Ethik wie von "Pro Reli" gedacht, wäre auf Grund einer damit gegebenen Bevorzugung einer nichtreligiösen Weltanschauung verfassungswidrig. Für den Religionsunterricht dagegen ist seine Bekenntnisbindung, z.B. an das Christentum oder an den Islam zulässig und charakteristisch. Wie die Deutsche Bischofskonferenz 1996 feststellte, ist Religionsunterricht "in konfessioneller Positivität und Gebundenheit" zu erteilen. "Sein Gegenstand ist … der Bekenntnisinhalt, nämlich die Glaubenssätze der jeweiligen Religionsgemeinschaft" (Die deutschen Bischöfe: Die bildende Kraft des Religionsunterrichts, Bonn 1996, S. 68) Genau deshalb ist er einem staatlichen und zur religiös-weltanschaulichen Neutralität verpflichteten Ethikunterricht, der Allgemeinbildung auf wissenschaftlicher Grundlage vermittelt, nicht gleichzusetzen und damit nicht austauschbar. In nachzuvollziehender Weise dient z.B. für die Evangelische Kirche Deutschlands (EKD) der Religionsunterricht der "Weitergabe des Glaubens inmitten von Lebensfragen", wie es in einem Synodenbeschluss von 1999 mit dem Titel "Reden von Gott in der Welt - Der missionarische Auftrag der Kirche an der Schwelle zum dritten Jahrtausend" heißt.
Pro Ethik-Behauptung: Berlinern werden "Grundrechte vorenthalten"
Pro Reli behauptet:
Den Berlinern werde das Recht auf Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach vorenthalten. Die Bremer Klausel würde nur "auf Grund eines juristischen
Zufalls" in Berlin gelten.
Dazu ist festzustellen: Das ist völlig unzutreffend. Der Artikel 141 des Grundgesetzes, die so
genannte "Bremer Klausel", bestimmt, dass Artikel 7 Absatz 3, der Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach festlegt, keine Anwendung in einem Lande findet, in dem am 1. Januar 1949 eine andere
landesrechtliche Regelung galt. Das der Artikel 141 auch für Berlin gilt, ist kein "juristischer Zufall", sondern folgerichtige Anwendung von Verfassungsrecht.
Zu weiteren Behauptungen von Pro Reli:
Pro Reli behauptet: "Respekt und Toleranz gibt es aber nur, wenn man etwas über den eigenen Glauben und die eigene Weltanschauung weiß."
Richtig dagegen ist: Zum Einen hängt es wohl auch von der Art des Glaubens oder der Weltanschauung
ab, ob man Wert auf Respekt und Toleranz legt. Man denke z.B. an Anhänger religiös oder weltanschaulich fundamentalistischer Auffassungen.
Zum Anderen ist gerade ein Wissen um andere Glaubensvorstellungen oder Weltanschauungen und das Gespräch mit ihren Anhängern in einem gemeinsamen
Ethikunterricht (statt nur eines Gespräches übereinander) in besonderer Weise geeignet, Respekt und Toleranz zu fördern.
Pro Reli fordert: "Werteunterricht sollte nicht wie bisher erst in der Oberschule verpflichtend sein.
Kinder brauchen so früh wie möglich Orientierung."
Dazu ist festzustellen: Pro Reli verkürzt hier Werteunterricht auf Ethik bzw. Religions- oder
Weltanschauungsunterricht. Werteerziehung und Wertebildung finden in den Grundschulen starkem Maße im vorfachlichen Unterricht und in allen Fächern statt. Alle schulischen Lehrkräfte orientieren in
Bildung und Erziehung die Kinder ab der 1. Klasse an Werten wie Gerechtigkeit, gegenseitige Rücksicht, Friedfertigkeit und Toleranz.
Im Übrigen gab es bei den Vorüberlegungen zur Einführung des Faches Ethik in 2005/2006 durchaus auch Überlegungen, dieses schon ab Klasse 1 einzuführen. Wenn davon abgesehen wurde, dann deswegen,
weil Rücksicht auf Interessen der Kirchen genommen wurde. Das sollte man klugerweise nicht vergessen und nicht jetzt auf einmal kritisieren.
Zum Schluss noch ein Hinweis zum “drohenden Fundamentalismus.“ Pro Reli will die Ängste vor dem Islam nutzen und verspricht vollmundig die Kontrolle des islamischen Religionsunterrichtes als Schutz vor fundamentalistischen Tendenzen. Dabei kann auch ein verstaatlichter Islamunterricht nicht intensiver und besser kontrolliert werden als das bisherige Angebot der Islamischen Föderation – in dem sich Schulräte und Schulleiter in der Vergangenheit die Klinke in die Hand gaben und bei dem der Rahmenplan mehrfach überarbeitet wurde! Dafür würden die bisherigen Islamlehrer dieser fragwürdigen Organisation aber Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes! Schlimmer noch, an Schulen mit hohen Migrantenanteilen z. B. in Kreuzberg oder Neukölln, würden die muslimischen Oberschüler dank Pro Reli zum Islamunterricht gehen, den es bislang nirgendwo in der Oberschule gibt, weil bei der Islamischen Föderation keine dafür qualifizierten Lehrkräfte vorhanden sind. Alternativen außer Ethik wären weiterhin mangels Schülermasse nicht möglich. Da sich die Islamische Föderation in den Religionsunterricht eingeklagt hat, würde sie auch die Trägerschaft für den Staatsreligionsunterricht erhalten müssen, wer denn sonst?
Zusammenfassend: Die Argumente des Vereins Pro Reli für einen Wahlpflichtbereich Ethik/Religion und gegen ein gemeinsame Ethikfach entpuppen sich bei näherem Hinsehen als Konstruktionen, die der Wirklichkeit nicht bzw. kaum entsprechen. Auffällig ist die häufige Inanspruchnahme von Begriffen wie z.B. Respekt und Toleranz für das eigene Modell und die z.T. diffamierenden Negativzuschreibungen für den gemeinsamen Ethikunterricht und für diejenigen, die sich dafür einsetzen.
[1] Gerd Eggers hat ein Lehrerstudium absolviert und war anschließend wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich der Pädagogik, zuletzt im Modellversuch für das Fach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde (LER) in Brandenburg, er ist für die SPD in der Initiative Pro Ethik vertreten und deren Koordinator. Außerdem ist er Bildungsbeauftragter des Humanistischen Verbandes Deutschlands (HVD).